Vom Kampf zwischen Meer und Land

Lesen Sie diesen Text beispielsweise in Carolinensiel, gilt: Wo Sie heute stehen, war früher Meer. Und noch davor Land. Klimaveränderungen haben die Ausdehnung der Nordsee schon immer verändert. Ein Blick zurück.

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ie Nordseeküste, die Sie heute besuchen und sehen, sah nicht immer so aus. Der Übergang von Meer zu Land ist wechselhaft – nicht nur durch Ebbe und Flut, wie Sie es auch heute jeden Tag erleben können. Über einen viel längeren Zeitraum betrachtet, also über Jahrhunderte und Jahrtausende, hatte mal das Land, mal das Meer die Oberhand. Das hat mit dem Klima zu tun, mit dem Wechsel von Warm- und Eiszeiten. Also einfach gesagt: Ist das Meerwasser in Eisgletschern gebunden, nimmt es weniger Platz in der Fläche in Anspruch. Ist es flüssig, dehnt es sich in der Fläche aus.
Vor rund 10.000 Jahren – nach der letzten Eiszeit – verlief die Küstenlinie von Mittelengland über die Doggerbank nach Nordjütland am nördlichen Ende von Dänemark. Man hätte also zu Fuß nach England laufen können. Mit dem wärmer werdenden Klima der Nacheiszeit schmolz das im Eis gebundene Wasser über mehrere Jahrtausende langsam ab und drang nach und nach in das flache Nordseebecken vor. Zu Fuß nach England – das geht schon lange nicht mehr.
Der Anstieg des Meeresspiegels und die manchmal schweren Sturmfluten – die Menschen, die hier in den letzten Jahrhunderten siedelten, passten sich an, so gut sie es vermochten. Sie warfen Hügel auf, sogenannte Wurten oder Warften, auf denen sie ihre Höfe und Dörfer errichteten. Als das nicht mehr reichte, wurden längere Deichlinien gebaut, um die Nordsee auf Abstand zu halten. Immer höher und ausgefeilter wurden diese Schutzwälle. Und nicht immer hielten sie. Mehrere große Sturmfluten haben über die Jahrhunderte zahllose Opfer gefordert. Manchmal gaben die Menschen ihnen auch Namen, die das Grauen ausdrückten: Die „grote Mandrenke“ etwa, das große Menschenertrinken, im Jahr 1362.

Beispiel: Das große Ertrinken

Der Geograph Peter Kremer hat sich intensiv mit der wechselhaften Küstenlinie Ostfrieslands beschäftigt, vor allem mit der Harlebucht nördlich von Wittmund. Eine Einbuchtung, die früher kilometerweit ins Land hineinreichte und heute durch Eindeichung und Landgewinnung gar nicht mehr da ist. Denken Sie dran, wenn Sie mal gemütlich um den malerischen Museumshafen von Carolinensiel schlendern: Vor 600 Jahren hätten Sie an gleicher Stelle kräftig schwimmen müssen.
Die „grote Mandrenke“, auch bekannt als Zweite Marcellusflut, ereignete sich im Januar 1362 und war nicht nur verheerend für Mensch und Tier – sie verschlang auch große Mengen Land. Um die Gewalt des Wassers zu verdeutlichen: „Die Harlebucht ist damals um rund 75 Prozent größer geworden“, berichtet Peter Kremer. Das Meer sei über viele Kilometer in das Land eingedrungen, bis zum Geestrand noch hinter Wittmund. So geht es aus Karten hervor, die der Geograph nach alten Quellen angefertigt hat. Wie viele Menschen und Tiere den Fluten zum Opfer fielen – unbekannt. Zwar gebe es die Zahl von 100.000 – „aber damit sollte wohl einfach nur eine große Menge ausgedrückt werden“, glaubt er.

Erst kam die Pest, dann die Flut

Kremer weiß auch einiges über die Ursachen für die enormen Schäden damals; denn nicht immer hatten schwere Sturmfluten so schlimme Folgen. Auch der Zustand der Deiche sei wichtig, so Kremer. Also: Wurden Bau und Instandhaltung vernachlässigt, hatte es das Meer leichter. In dem Fall der Zweiten Marcellusflut kam offensichtlich zweierlei zusammen: Eine schwere und tagelang andauernde Sturmflut traf auf schlecht gepflegte Deiche. „Wenige Jahre vorher hatte eine Pestepidemie die Nordseeküste erreicht und rund 40 Prozent der hiesigen Bevölkerung ausgelöscht“, erklärt Kremer. In der Folge sei die Wirtschaft eingebrochen. Irgendwann seien weder ausreichend Mittel noch Menschen da gewesen, um die Deiche instand zu halten. Dem tagelangen Druck der Wassermassen hielten sie jedenfalls nicht mehr stand. Ob so ein Unglück heute auch noch möglich wäre? Der Klimawandel mit seinen Extremwetterereignissen ist schließlich eine Herausforderung für die Küstenschützer. Dennoch meint der Geograph: „Ich halte das für sehr unwahrscheinlich.“ Die Deiche seien hoch und sicher, es gebe außerdem Frühwarnsysteme und Wettervorhersagen.

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