Die Museumspferdebahn fährt während der Saison mehrmals täglich über die Insel – und ist damit die letzte ihrer Art
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as Salz kristallisiert auf der Haut, der Wind weht um die Ohren und der Duft eines Pferdes kitzelt die Nase: So sinnlich ist eine Bahnfahrt über die Insel Spiekeroog. Mit einem normalen Zug hat der Waggon mit der Ziffer „21“ darauf allerdings wenig gemein. Nur so viel: Er fährt auf Schienen. Doch nicht Diesel oder Elektrizität bringen diese Bahn in Schwung: Die Museumspferdebahn wird von genau einer Pferdestärke gezogen. Eine Pferdebahn, die nach Fahrplan fährt – das ist heute in Deutschland einmalig. Träger ist der Museumsverein Spiekeroog. Doch fast hätte der Küstenschutz 2019 das Aus dieser beschaulichen Attraktion der Insel bedeutet. Erst eine zündende Idee und schließlich eine beispiellose Rettungsaktion rissen das Ruder herum. Seit vergangenem Sommer ist das nostalgische Wahrzeichen nach mehr als einem Jahr Pause wieder auf den Schienen.
Nun also können die Fahrgäste wieder auf historischer Strecke vom ehemaligen Bahnhof zum Westend und auf Wunsch wieder zurück gelangen. Nur rund 15 Minuten dauert eine Tour. Aber sie steckt so voller landschaftlicher Idylle und Entschleunigung, dass jede einzelne dieser Minuten zum Erlebnis wird. In der Saison, also von Ostern bis Mitte Oktober, macht sich der Pferdebahner Christian Roll täglich viermal auf den Weg. Immer dabei sind entweder der Tinker Tamme oder sein Pferdekumpel Eddie. Der Betreiber der Pferdebahn liebt seine Aufgabe. „Es ist ein unglaublicher Arbeitsplatz“, schwärmt er. Seine eigene Begeisterung für alles, was auf Schienen fährt, wurde dem Schauspieler und Gastronom aus Berlin offenbar in die Wiege gelegt: „Wir sind eine Eisenbahn-Fanfamilie.“ Christian Roll ist als Pferdebahner in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Der initiierte 1981 die Wiederbelebung der Pferdebahn und war ihr erster Kutscher.
Mit der Bahn zum Anleger
Eisenbahnenthusiast Hans Roll aus Pforzheim rettete schon in den 1950er Jahren ausrangierte Straßenbahnen. Auch Originalteile aus Pferdestraßenbahnen seien darunter gewesen, berichtet sein Sohn. Einige halten noch heute den Waggon 21 zusammen. Roll Senior hatte den aus Originalteilen rekonstruiert. Von 1885 bis 1949 war die Pferdebahn als Verbindung zwischen Schiffsanleger und Dorf fester Bestandteil des Insellebens. Dann wurden die Vierbeiner durch Dieselloks ersetzt, bis auch die 1981 überflüssig geworden waren. Der Inselbahn-Betrieb wurde nach Verlegung des Hafens eingestellt. Hans Roll reanimierte die Pferdebahn. Unterstützung bekam der Pferdebahner schon damals von seinem Sohn. Christian Roll half schon in den 1980er Jahren aus, wenn der Senior mal die Insel verlassen musste. Schon damals begeisterte das Kleinod den heutigen Pferdebahner und die Inselgäste gleichermaßen.
Da überrascht es wohl nicht, dass die zweite Rettung Anfang des Jahres 2021 breite Unterstützung fand. Auf der Insel und am Festland zogen alle an einem Strang, um das Wahrzeichen der Insel zu retten. Viele Einzelne gaben Geld, insgesamt über 100.000 Euro. Mehr als 2000 Spender beteiligten sich, weil sie sich mit dem Eiland und der Pferdebahn verbunden fühlen. „Da war alles dabei: Kinder, die ihr Taschengeld gegeben haben, eine andere Kleinbahn und anonyme Einzelspender mit deutlich höheren Beträgen“, fasst der Spiekerooger Tourismuschef Ansgar Ohmes zusammen. Finanziert wurde damit eine neue Art, das Tor im Deich für den Herbst und Winter zu verschließen: Konkret zwei Führungsschienen und massive Dammbalken. Denn in der kalten Jahreszeit kommen die Stürme – und mit den Stürmen die Wassermassen aus der Nordsee. Zugleich aber muss die Küstenschutzmaßnahme im Frühjahr auch wieder gut zu entfernen sein. Denn dann fährt die Pferdebahn genau durch diese Lücke im Deich.
Eigentlich war ein entschleunigtes Inselleben als Pferdebahner gar nicht das erklärte Ziel von Christian Roll. Früher stand er für verschiedene TV-Produktionen vor Fernsehkameras, beispielsweise an der Seite von Yvonne Catterfeld in der Fernsehserie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ als ihr Lehrer. Im Jahr 2014 sollte es dann aber plötzlich keine Pferdebahn-Saison geben. Die vorherige Betreiberin hatte die Insel samt ihrer Pferde verlassen. Der Museumsverein suchte Ersatz. „Mein Vater war entsetzt.“ Christian Roll hörte über seinen Vater davon und entschied: „Dann spring ich mal ein.“ Aus dem kurzfristigen Einsatz wurde eine Dauerlösung. Roll nutzte die Chance auf Veränderung, die sich ihm bot. Er packte seine Koffer in Berlin. Heute hält er die Zügel in der Hand. In Berlin überwintert er aktuell nur. Die Saison verbringt Roll voll und ganz auf Spiekeroog. Ihn begeistert, dass jeder Zentimeter Pferdebahn voller Geschichte steckt: Es ist von Menschen gemachte Technik, im Einklang mit dem „natürlichen, wilden Charakter“ des Pferdes. „Ich kann einen historischen Moment erleben. Der Bremsgriff, den ich halte, ist 130 Jahre alt.“